Leserbrief
zum Artikel von DORIT KOWITZ „Gibt es eine Generation ADHS?“ in „Die Zeit“ vom 5. September 2013
Wieder ein Artikel, der mit leichter Hand den Problemstand zum ADHS skizziert; ein Thema, das doch Viele bewegt. Da ist zunächst die Frage: Was tun wir unseren Kindern an, dass sie sich in derartige Verhaltens-Sackgassen verlaufen müssen? – Aber wer die Schuld bei Schule und Elternhaus sucht, sollte nicht übersehen: Es wird beiden nicht leicht gemacht. Dazu nur drei Stichworte: Die Über-Domestizierung der Stadtlandschaften, die immer abstrakter werdende Arbeitswelt, die Gewalt der Bildschirme über die Sensomotorik schon der Kleinsten…Und dann ist da auch noch der Kampf David gegen Goliath: Auf der einen Seite die beängstigende Macht der Pharma-Riesen, deren Überzeugungssystem „wissenschaftlicher“ Halb- und Vierteleswahrheiten die ratlosen Eltern (und ihre Ärzte) da trifft, wo sie am leichtesten zu packen sind: bei dem Glauben an schnelle Lösungen durch die Wunderpille. Auf der anderen Seite sehen wir, auch etwas ratlos, die Psychologen und Pädagogen. Was sie zu verkaufen haben, ist weniger handlich. Und es gibt 1000 Richtungen und Schulen und Methoden. Sie alle eint die Überzeugung, dass die „Pille“ weder nachhaltig wirkt noch ungefährlich ist und überdies (entgegen dem wirklichkeitsfremden Statement: „macht nicht süchtig“) ein hohes Abhängigkeitspotential in sich birgt, dergestalt, dass ein Absetzen dieser Medikamente nach längerer Einnahmezeit mit teilweise dramatischen Reaktionen verbunden sein kann. (Dies gilt übrigens für alle Substanzen, die in eines der Katecholamin-Systeme eingreifen, wie z.B. die Parkinsonmittel). Ganz im Verborgenen gedeihen die kleinen Richtungen, z. B. die chinesische. Denn in einem hat die Ritalin-Fraktion vielleicht doch ein bisschen Recht: Da ist auch etwas Körperliches am ADHS, eine Art „ psychoimmunologischer Dämon“, den man allerdings nicht mit Dopingmitteln bekämpft, sondern durch sanfte Methoden umlenken und zivilisieren kann. Auch die Chinesische Kultur hat eine mehrtausendjährige Erfahrung mit der Abgründigkeit des Menschen. Und die hat sie in traditioneller Philosophie und Medizin versteckt.
Dr. Christian Schmincke, Klinik am Steigerwald, Gerolzhofen